Von Gianluca Perseu
Man kann sagen, meine Reise hat genau so begonnen: Aus einer verrückten Idee heraus. Doch den Sprung zu einer Reise mit Plan, der beispielsweise die Dauer oder unterschiedlichen Etappen mit einbezieht, den hat mein Trip nie gemacht. Ich fuhr einfach los, ohne richtige Reiseroute, aber mit einem sicheren Ziel: Das Nordkap. Und diese Geschichte handelt davon.
Fangen wir also ganz von vorne an: Damals, als ich noch nicht wusste, dass ich mal zum Nordkap fahre. Wie das so oft der Fall ist, verliebte auch ich mich in Bilder von isolierten, wilden Orten aus dem Internet oder Fernsehen. In kalte Landschaften, die man nur in hohen Breitengraden und in den abgelegenen Gebieten der Antipoden unseres Planeten findet. Die logische Konsequenz war daher der Norden. So trat ich im Jahr 2018 eine Reise auf die Färöer Inseln an. Im Mietwagen. Der Charme des Nordens hat mich dabei völlig erobert und ich war dann so besessen von den kalten und fernen Orten der Arktis und Subarktis, dass ich direkt anfing, mir neue Reiseziele zu setzen: Alaska, Grönland, der Norden Schottlands, Spitzbergen, Kanada, Sibirien, Kamtschatka und die Aleuten. Aber auch Orte der südlichen Hemisphäre begeisterten mich, wie Patagonien und Feuerland, Südgeorgien, Neuseeland und die Antarktis. Kurzum: Viele abgelegene Ziele, die auch nicht von allen geschätzt und besucht werden. Auch Skandinavien, insbesondere Norwegen und Schweden, taucht auf der Liste auf. So hatte ich eines Tages einige YouTube-Videos vor Augen, in denen lange Europa-Roadtrips zu sehen waren, unter anderem auch eine Reise zum Nordkap. Generell ist das Nordkap ein sehr beliebtes Ziel bei uns Italienern, auch wenn es nicht jeder hier kennt.
Ich sprach mit Kunden und Freunden im Restaurant meiner Eltern über diese Idee. Und je mehr darüber gesprochen wurde, desto mehr wurde mir klar, dass die meisten Menschen die Reise zum nördlichsten Punkt Norwegens entweder mit dem Wohnmobil, dem Auto oder – und das ist die Vielzahl – mit dem Flugzeug unternehmen. So begann sich in meinem Kopf eine Idee zu formen, deren Pfeiler aus folgendem Vorsatz bestand: Ich möchte windsurfen – am Nordkap! Seit gut 10 Jahren windsurfe ich am Gardasee, meiner Heimatregion und einem der Weltmekkas dieses Sports.
Also fing ich an, mich darüber schlau zu machen. Ist das Windsurfen am Nordkap überhaupt möglich? Wie gefährlich ist es? Hat das überhaupt schon mal jemand gemacht? Und nachdem ich herausfand, dass bisher nur sehr wenige Menschen den Versuch gewagt haben, stieß ich auf einen Namen: Jono Dunnett. Ein Kerl, der mit seinem Board von der nordöstlichen Grenze Norwegens aus startete und bis zum Schwarzen Meer an der russischen Grenze windsurfte. Dabei umrundete er den gesamten europäischen Kontinent. Crazy, oder? Ich war wie vom Blitz getroffen! Jonos Idee war so wunderschön und ehrenwert. Das gab mir den richtigen Anstoß, selbst die Reise zum Nordkap anzutreten. Wann genau wusste ich aber noch nicht.
Wie es der Zufall wollte, endete meine Arbeit im Restaurant schon in den ersten Juni-Tagen des Jahres 2019. Das war perfekt. Perfekt, um zu reisen. Also ging es los. Ich begann mit den Reisevorbereitungen. Organisierte, was ich mitnehmen wollte und behielt im Hinterkopf, dass der Norden sehr teuer sein soll. Doch ich wusste, dass ich Wildcamping gut vertrage. So packte ich Zelt und Schlafsack ein. Die restliche Camping-Ausrüstung besorgte ich mir kurzerhand: Campingtöpfe, Gaskocher- und -flaschen sowie etwas zu essen. Vor der Abreise stellte ich mir noch eine letzte Frage: Wie lang soll diese Reise dauern? Ein oder eineinhalb Monate klingen gut. Ich kann dir aber schon jetzt verraten, dass dieser Zeitplan nicht ganz aufging.
Am Abend des 11. Juni ging ich in die Garage, baute die nicht benötigten Sitze meines Fiat Puntos aus, um Platz zu gewinnen und lud meine Ausrüstungen zum Windsurfen und Camping sowie jegliche Art von Werkzeug zur Autowartung ein. Zurück im Haus packte ich eine Tasche mit etwas Kleidung, relativ wenig für eine Reise, und ging dann schlafen. Am nächsten Morgen ist es dann soweit:
Die Reise zum Nordkap beginnt.
Es ist frühmorgens, so gegen vier Uhr. Ich packe die letzten Sachen ins Auto und verabschiede mich von meinen Eltern. Erstmal tanken. Bei Rovereto Süd fahre ich auf die Autobahn Richtung Brenner. 12 Stunden Fahrt und 1.200 km liegen vor mir. Heutiges Ziel: Hamburg. In Österreich kaufe ich mir die Vignette und lasse mir auf dem Weg von Innsbruck nach Deutschland etwas Zeit. Gegen Mittag komme ich in München an. Sandwich-Pause, ein paar Checks am Auto und weiter geht’s. Im Vorfeld meinten viele Leute, dass ich mit meinem Auto nie bis zum Nordkap kommen werde. Schauen wir mal. Ich fahre bis Leipzig. Das Wetter im Süden war gut. In München und Nürnberg gab es dann viel Regen. Doch hier in Leipzig ist klarer Sonnenschein. Ich biege ab, Richtung Hannover. Je näher ich Hamburg komme, desto heller wird der Himmel – bis er sich feurig orange und rot färbt. Noch nicht in Hamburg angekommen, werde ich schon am ersten Tag meiner Reise Zeuge eines wunderschönen Sonnenuntergangs. Erst spät abends komme ich in meinem Hostel in der Hamburger Innenstadt an, das ich erst drei Stunden vorher gebucht habe. Günstig, zentrumsnah und sehr schön.
In Städten interessiert mich vor allem die zeitgenössische Architektur. Daher will ich mir in Hamburg die von Zaha Hadid entworfene Elbpromenade und die von Herzog & de Meuron entworfene Elbphilharmonie ansehen.
Viel Zeit habe ich nicht dafür, da ich bereits am Abend in Kopenhagen sein muss. Also mache ich rasch ein paar Fotos, steige in die U-Bahn und versuche, schnell mit dem Auto aus der Stadt zu kommen. Ein wildes Durcheinander. Hamburg wimmelt heute nur so von Baustellen und Verkehr. Eine wahrliche Odyssee. Schließlich befinde ich mich auf der Autobahn, die in Deutschland glücklicherweise kostenlos befahrbar ist. In Richtung Kiel. Direkt an der Grenze Dänemarks mache ich eine kurze Pause und esse etwas. Sandwich mit Aufschnitt, da ich Geld sparen will. Oder auch mal ein Brot mit Thunfisch aus der Dose.
An der dänischen Grenze hält mich das Militär kurz auf. Ich muss einige Fragen beantworten, bis ich schließlich wieder auf die Autobahn Richtung Kolding darf. Die Landschaft Dänemarks entspannt mich, die Sonne geht langsam unter.
Ich überquere zwei Brücken auf dem Weg nach Kopenhagen. Die längste trägt den Namen Storebæltsbroen. Satte 35 Euro Maut muss ich hier bezahlen. Nach einer Stunde und zwanzig Minuten komme ich in Kopenhagen an und bemerke direkt den architektonischen Unterschied zu Hamburg. Ich bin im Norden angekommen – das begreife ich jetzt. Nahe des Vergnügungsparks Tivoli parke ich mein Auto im Stadtzentrum. Im Urban House Copenhagen, einer Jugendherberge, übernachte ich. Das ist günstig und die Menschen sowie die Küche hier sind aus aller Welt.
Der nächste Morgen bricht an. Ich will mir Kopenhagen genauer ansehen und mache einen Spaziergang durch die schöne Stadt. Vorher belade ich noch kurz mein Auto. Allzu lange will ich hier während meiner Reise nicht bleiben, da ich bald Oslo erreichen will. Einen Besuch der Kopenhagener Museen überspringe ich daher. Aus Neugierde gehe ich in das berühmte Christiania-Viertel – obwohl mir bekannt ist, dass es hier sicherlich nur so von Touristen wimmeln wird. Danach besuche ich das Grachtenviertel Nyhavn. Es ist ein wunderschöner Tag heute und die Sonne scheint. Auf meinem Weg sehe ich den berühmten Kanal-Distrikt. Menschen baden dort – fast so viele, als wäre dies der örtliche Strand. Menschen auf SUPs und sogar Beachvolleyball wird hier gespielt. Ich wandere durch einige Teile der dänischen Hauptstadt und gehe zurück zum Auto. Es ist heiß und gar nicht so einfach, bei dem Straßenverkehr raus aus Kopenhagen zu kommen. Letztendlich befinde ich mich aber wieder auf der Autobahn – auf nach Malmö, Schweden.
Die Strecke führt mich auf die berühmte Öresundbrücke. Entworfen vom Studio Dissing+Weitling. Habe ich schon erwähnt, dass ich mich sehr für Architektur interessiere? Tatsächlich handelt es sich bei der Brücke mit fast 16 km Länge um die längste Europas. Von Kopenhagen aus kommend fahre ich zunächst in einen Unterwassertunnel, der teilweise unter der Öresundstraße – die Nord- und Ostsee verbindet – hindurchführt. Danach fahre ich eine leichte Steigung zur Höhe der Brücke. Am Ende bin ich in Schweden. Bezahle davor aber noch etwas Maut, ganze 54 Euro. Sofort bin ich in Malmö. Gerne würde ich mir die Stadt und ihre Architektur genauer ansehen. Doch um schneller in Norwegen sein zu können, ziehe ich weiter.
Ein Zeitsprung. Tag vier. Es geht weiter entlang der Westküste Schwedens. Je weiter ich in den Norden fahre, desto mehr verschlechtert sich das Wetter. Gegen Nachmittag regnet es. Zudem beginne ich mich aufgrund der langen Autofahrten etwas müde zu fühlen Als ich dann das Straßenschild der Abzweigung nach Göteborg sehe, beschließe ich, anzuhalten. Schnell finde ich eine buchbare Herberge für die Nacht. Verwöhnt von den Unterkünften der vorherigen Tage überrascht mich das kleine Zimmer für sechs Personen in Göteborg – bin aber schnell zufrieden damit.
Der nächste Morgen bricht an und zum ersten Mal muss ich heute einkaufen gehen. Bei hohen, aber noch vernünftigen schwedischen Preisen. Tatsächlich habe ich da Schlimmeres erwartet.
Das schlechte Wetter des Vortags stabilisiert sich und endlich ist es soweit: Der erste Windsurfausflug meiner Reise! Laut Internet-Recherchen gibt es heute etwas warmen Wind, gerade genug, um mit der großen Ausrüstung rauszugehen. Ich suche nach möglichen Spots und finde Askimsbadet südlich der Stadt. Hier gibt es sogar eine Windsurfschule und einen großen Strand. Gerade gibt es noch nicht sehr viel Wind, also warte ich etwas. Schnell wird mir klar, dass heute der erste Tag des Wochenendes ist. Der Strand scheint ziemlich beliebt zu sein, denn einige Menschen kommen gerade am Strand an. Mit perfektem Timing kommen nun die ersten Böen aus dem Süden und ich habe eine großartige Zeit auf dem Wasser. Trotz der Vielzahl von Besuchern entspanne ich danach noch am Strand und kann in Ruhe das Windsurf-Equipment abbauen und ins Auto laden. Ich fahre weiter Richtung Norden, nach Norwegen.
Langsam verändert sich die Landschaft. Inmitten der Meeresbuchten tauchen erste Wälder auf. Nachdem ich die Svinesundbrücke überquere, die die beiden Ufer des Idefjords verbindet und eine natürliche Grenze zwischen Schweden und Norwegen markiert, betrete ich endlich norwegisches Territorium.
Eine Stunde noch bis Oslo.
Genügend Zeit, um eine Herberge für die heutige Nacht zu buchen. Das erste, das mir dabei auffällt, sind die hohen norwegischen Preise, die deutlich höher sind, als noch in Schweden. Daher entscheide ich mich für ein günstiges Hostel im Zentrum Oslos. Günstig, aber dennoch schön – die Jugendherberge Club 27. Diese liegt gegenüber der Grønland kirke – eine Kirche, neben der ich mein Auto parken kann. Die Herberge scheint sogar frisch renoviert. So verbringe ich dort meinen Abend. In aller Ruhe, nun endlich in Norwegen angekommen, stelle ich Überlegungen für den nächsten Tag an.
Ein Freund riet mir vorab, das Munch-Museum anzusehen, doch stattdessen besuche ich eine temporäre Ausstellung über moderne skandinavische Architektur mit anschließendem Spaziergang am Pier, an dem sich die Hauptsitze einiger der besten und bekanntesten Architektur-, Design- und Grafik-Studios Norwegens und Europas befinden. Meine Füße führen mich weiter in Richtung des Osloer Opernhauses – ein großartiges Beispiel für zeitgenössische skandinavische Architektur. Daneben befinden sich an der Strandpromenade, wie auf einem Festival, unterschiedlichste Essens- und Verkaufsstände. Die berühmten Floß-Saunen Oslos docken an und laden dazu ein, an Bord zu gehen und die Füße anschließend ins Wasser hängen zu lassen und ein Bad im Fjord zu nehmen – genießen lässt sich das sicher auch an kalten und grauen Tagen. Als ich am Osloer Opernhaus ankomme, bemerke ich, wie schön und besonders dieses Gebäude ist. Jeder Mensch, der sich in der Nähe des Bauwerks befindet, interagiert förmlich mit der äußeren Architektur und beeinflusst diese – es wirkt fast so, als wäre sie ein Teil der Uferpromenade, der mit sanfter Biegung zum Fjord hingleitet und ein eigener Strand ist.
Ich beende meine Tour und gönne mir auf dem Weg zum Auto einen Hamburger. Ich steige ein und setze meine Reise fort, dem Südwesten entgegen nach Kristiansand. Doch meine Unerfahrenheit im langen Fahren mit dem Auto macht mich weiterhin müde. So halte ich gegen Mitternacht inmitten des norwegischen Waldes – auf einem Rastplatz. Dort verbringe ich die Nacht. Und ich beginne zu spüren, wie die Sonnenstunden länger werden.
Am nächsten Morgen erwache ich früh und bereite mir ein kostenloses Frühstück mit meinem neuen Campingkocher zu. Das Wetter ist herrlich. Kurz vor Kristiansand färbt sich der Himmel dann doch grau und es beginnt zu regnen. Und inmitten des Regens verfahre ich mich, trotz Smartphone-Map. Eigentlich wollte ich an Lindesnes vorbeifahren, um das erste Restaurant Europas zu sehen, das ins Meer ragt – so, als wäre es versunken. Statt umzukehren fahre ich jedoch weiter Richtung Westküste. Dort, in Brusand, südwestlich von Stabanker, ist es windig und eine sandige Stelle sieht nach dem perfekten Platz für meine zweite Windsurf-Session aus. Am Parkplatz angekommen stelle ich fest, dass ich samt Ausrüstung einen Kilometer bis zur Surf-Stelle laufen müsste.
Ein Kiter aus Oslo hat gleiches vor. Also schlüpfe ich trotz Kälte und Regen in meinen Neoprenanzug, lade meine Windsurf-Ausrüstung auf einen Kajakwagen und gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Strand. Dort bemerke ich, dass die nahen Felsen im westlichen Teil des Strandes ein Problem für meine Flosse darstellen könnten – zudem herrscht starker Wind. Netterweise gibt mir der Kiter aus Oslo ein paar Tipps zu den Gegebenheiten vor Ort.
Der Wind beginnt abzuflauen und nach etwa einer Stunde bin ich zurück am Ufer. Dennoch war der Wind zwischenzeitlich so stark, dass ich von einer Welle getroffen wurde – am Land bemerke ich dann, dass mit meinem Windsurf-Segel etwas nicht stimmte.
Es hatte ein seltsames Profil. Leider sind zwei Segellatten des Segels gebrochen. Ein ungutes Gefühl. Ich hole das Segel herunter und marschiere zum Auto.
In direkter Nähe des Zentrums von Stavanger finde ich meine heutige Herberge. Nach einer heißen Dusche und einem Teller leckerer Pasta spaziere ich durch die Stadt.
Schade, dass ich den Stadtteil Gamle Stavanger erst jetzt am Abend sehe, denn mir fällt auf, dass er nun abgesperrt ist. Doch die weißen Holzhäuser des historischen Viertels aus dem 18. Jahrhundert beeindrucken auch aus der Ferne.
Zurück in meiner Unterkunft suche ich im Internet nach einem lokalen Windsurf-Shop. Davon gibt es wenige in Norwegen, doch einen glücklicherweise in Stavanger. Am nächsten Tag säubere ich mein Segel und bringe es zum Shop. Vielleicht gibt es hier jemanden, der die Segellatten reparieren kann.
Ich bekomme den Kontakt einer Person, die mir bei meinem Anliegen weiterhelfen könnte – am Stadtrand, Öffnungszeit: 15:00 Uhr. Gerade ist Mittag, daher wandere ich etwas herum. Am Strand angekommen, teilt mir der Segelmacher mit, dass er zurzeit sehr beschäftigt sei und die Reparatur meines Segels daher drei Tage dauern würde – die Arbeit koste auch einiges, da einige Teile extra aus Oslo verschifft werden müssten. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Letztendlich soll ich Glück haben und die Reparatur ist dann doch günstiger als ich gerade denke. Wegen des Segels müsste ich aber nochmal nach Stavanger zurückkehren. Nun ja, ich verabschiede mich vom Segelmacher und beginne, die kommenden drei Tage zu planen.
Es ist Zeit, dem Preikestolen einen Besuch abzustatten. Um dorthin zu gelangen, muss ich allerdings erstmal eine Fähre nehmen – die erste meiner Reise – und die Verbindung zwischen Lauvvik mit Oanes. Ich entscheide mich, die Anlegestelle über eine Nebenlandstraße zu erreichen – die 516 – statt die stärker befahrene Staatsstraße 13 zu nehmen. Das Fährticket kostet 12 Euro und innerhalb von 15 Minuten erreiche ich die andere Uferseite. Von dort aus biege ich kurz vor dem Dorf Jørpeland rechts zum Parkplatz des Preikestolen ab.
Der Preikestolen ist ein sehr touristisches Ziel. Dementsprechend stark frequentiert ist die Gegend und dementsprechend hoch sind die Parkplatzgebühren – ganze 22 Euro für 24 Stunden. Der Wanderweg beginnt direkt am Parkplatz-Eingang. Gerne würde ich heute Abend in meinem Zelt in der Nähe der Felskanzel schlafen. Der Abend soll wunderschön werden, mit wenigen Wolken und einem warmen Sonnenuntergang.
Zurück zum Wanderweg. Ich bin etwas nervös. Denn wie bei typischen Alpen-Trails ist auch hier Vorsicht geboten und ich weiß nicht, was mich auf dem Pfad erwarten wird. Der Weg ist jedoch einfach zu meistern. Ohne große Höhenunterschiede – etwa 8 km lang und dauert gut drei Stunden. Dabei trage ich meinen 36-Liter-Rucksack, voll mit Essen, meinem Schlafsack und allem, was ich zum Campen und Fotografieren brauche. Ich bin also etwas beladen und so gekleidet, dass ich nicht unter dem unberechenbaren Wetter der norwegischen Küste leiden muss. Die Feuchtigkeit des Regens vorangegangener Tage und lästige Mücken sind meine Begleiter. Zwischen kleinen Seen und schlammigen Wegpassagen komme ich am Preikestolen an – und es lohnt sich sehr! Der Himmel, die Berge ringsum, der Fjord und die herrliche Aussicht sind atemberaubend. Die Show des Sonnenuntergangs ist wunderschön.
Das Zelten hinter der Felskanzel ist nicht erlaubt. In direkter Nähe gibt es dieses Verbot jedoch nicht. Daher studiere ich die Gegend und stelle fest, dass ich nicht der Einzige mit dieser brillanten Idee vom dort Nächtigen bin und beschließe, mein Zelt in den felsigen Terrassen oberhalb der Klippe aufzuschlagen. Gut, dass es hier genügend Platz gibt. Von hier aus kann ich den noch andauernden Sonnenuntergang und auch den herrlichen Sonnenaufgang am nächsten Morgen bewundern. Relativ spät gehe ich schlafen, um den Sonnenuntergang in seiner gesamten Dauer zu bewundern.
Nach gut vier Stunden Schlaf wache ich um Punkt vier Uhr morgens auf. Ich sehe mich kurz um und frühstücke mit Blick auf den prächtigen Fjord vor mir. Noch bevor sich der Preikestolen mit Touristen füllt, bin ich dort und kann ein paar schöne Bilder machen. Der Sonnenaufgang, verdeckt von einer kleinen Wolke, ist dennoch schön.
Ich baue mein Zelt ab, betrachte nochmal die schöne Gegend und mache mich auf den Rückweg. Diesmal über eine befahrene Straße, die den eigentlichen Wanderweg etwas abkürzt. Nun zeigt sich aber, wie touristisch dieser Ort eigentlich ist. Menschen jeden Alters und aus aller Welt stolzieren zum Preikestolen. Ich bin glücklich, dass ich die Nacht direkt dort verbracht habe und die Magie des Ortes nahezu für mich alleine aufnehmen konnte.
Solltest du die Gegend mal erkunden wollen, achte auf jeden Fall auf das Wetter – denn das kann sich schnell ändern. Das ist auch meine grundsätzliche Herangehensweise beim Reisen: Wetter prüfen, Route vorab digital ansehen und überlegen, wie ich Orte am besten genießen kann. Die Zeit dafür habe ich zu genüge und das Gefühl, so zu reisen, löst einige tolle Emotionen in mir aus.
Zurück am Parkplatz, verlade ich zunächst meine Ausrüstung und benutze die öffentlichen Toiletten, um mich etwas zu pflegen und zu waschen. Zwei Tage habe ich noch Zeit, bis ich mein Segel in Stavanger abholen kann. Genügend Zeit, um mir den Lysefjord anzusehen. Meine Vorstellung davon, wie ich den Ort erleben möchte, ist ziemlich klar: Ich will Wetter auskosten. Doch der erwartete Sonnenschein fällt aus. Es regnet und meine Pläne werden vom nassen Schauer hinweggespült. Vielleicht hätte ich auf dem SUP vom Fjord aus sogar den Preikestolen gesehen. Doch es hört nicht auf zu regnen. Die Sicht verschlechtert sich zunehmend. Also beschließe ich, lediglich mit dem Auto um diese Regionen herumzufahren. Zuerst zum Røssdalsvatnet, einem See in einem wunderschönen Tal. Tatsächlich ein sehr ruhiger Ort. Gut, die meisten Orte hier sind ruhig. Erreichbar ist der See über spärliche Straßen mit wenig Abzweigungen – und über eine Fähre. Bei meinem Weg vom See zurück zum Auto gehe ich durch einen Wald, der mich an den Klassiker Jurassic Park erinnert.
Die Farbe des Tages wird zunehmend grauer und ich kehre mit dem Auto zurück zum Ufer des Lysefjords, suche hier einen geeigneten Platz zum Zelten und finde Dørvika. Der ideale Ort dafür. Freies Campen am Fjord-Strand, umgeben von Wald und einem Weg, der direkt zum Parkplatz führt. Ein paar Vans und Autos sind dort. Vier weitere Personen zelten hier und wir beginnen ein kurzes Gespräch über die Regeln des wilden Campens in Norwegen. Ich schlage mein Zelt auf. Noch immer regnet es. Mücken – überall hier sind Mücken. Doch es ist ruhig hier. Angenehm ruhig.
Nachdem ich mein Quartier für die Nacht vorbereitet habe, erkunde ich die Gegend mit dem Auto und fahre dabei zurück auf die Landstraße entlang des Fjords.
Mich interessiert, wie weit einen diese Straße bringt, die nach Osten führt. Ich lande vor einem sehr kleinen Dorf namens Fossmork, fast gegenüber des Preikestolen. Doch kurz vor dem Dorf biege ich ab, auf eine Landstraße, die hinaufführt und etwas schmäler ist. Diese fahre ich bis zum Parkplatz Skrøylå auf einer Höhe von circa 300 Metern. Ein sehr ruhiges Plätzchen mit imposantem Blick auf die Klippe des Preikestolen.
Ich steige aus meinem Wagen und mache einen kurzen Spaziergang. Außer mir ist noch ein älteres Paar aus Frankreich mit ihrem schönen Van hier. Wahrscheinlich wollen die beiden die Nacht hier verbringen. Das kann ich sehr gut verstehen, denn der Ort hier ist atemberaubend schön – trotz des Regens und den grauen, tiefhängenden Wolken. Schafe aus umliegenden Farmen der Region tummeln sich hier.
Nach tollen Eindrücken steige ich wieder ins Auto und fahre nach Fossmork. Ein Ort mit gut zehn Bauernhöfen. Weiterfahren geht hier nicht. Also kehre ich um. Dabei fällt mir auf dem Rückweg ein Schokoladenladen am Ufer des kleinen Sees Eidavatnet auf. Ein Schild mit der Aufschrift „Lysefjorden Sjokolade“ begrüßt mich. Leider ist der Laden schon geschlossen. So kehre ich ans Fjord-Ufer zurück, an dem mein Zelt auf mich wartet und beginne mit der Zubereitung des Abendessens. Es gibt Pasta. Umgeben von Mücken und Regentropfen, die die Zeltwand hinunter wandern. Ich glaube, dass ich allmählich verstehe, was es wirklich bedeutet, im Freien zu campen.
Trotz des andauernden Regenwetters schlafe ich gut und wache erholt und ausgeruht auf. Ein kurzes italienisches Frühstück mit Kaffee und Keksen, Zelt abbauen, alles im Fiat Punto verladen und ab geht die Fahrt zurück nach Stavanger. Die erste Woche meiner Reise ist vollbracht und mein repariertes Segel wartet in einigen Kilometern auf mich.
Side-Facts zur Story.
Dauer: 5 Monate
Personenzahl: Eins
Circa 28.000 Kilometer durch: Italien, Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen