Thair Abud: Zu Fuß vom Nordkap nach Kapstadt.

Hast du dir schon mal vorgestellt, alles hinter dir zu lassen, deinen Besitz zu veräußern, den Rucksack zu schultern und aus dem bisherigen Leben auszubrechen? Thair Abud aus Graz hat im Jahr 2018 genau das getan und ist seitdem unterwegs. Damit das Abenteuer nicht zu schnell vorbei ist, bewegt er sich langsam voran: Thair geht zu Fuß vom Nordkap nach Kapstadt in Südafrika. Richtig gelesen – zu Fuß! Seit drei Jahren ist er nun schon unterwegs, hat mittlerweile mehr als 19.000 Kilometer zurückgelegt und mitten in der Toskana erzählt er uns via Telefon seine Geschichte. Eine Geschichte, die vom Gehen handelt, von der Freiheit und den Herausforderungen – und dem Reisen als Lebensinhalt.

Beginn des Interviews

Thair, im April 2018 hast du deinen Weg vom Nordkap nach Kapstadt begonnen. Mittlerweile bist du seit drei Jahren unterwegs. Wie kam es dazu?

Thair: Eigentlich ist das total verrückt, wie das alles angefangen hat. Meine erste Wanderung war der Jakobsweg von Graz nach Santiago de Compostela 2013 – 3250 Kilometer aus der Kalten, ohne vorher mehr gegangen zu sein als ein paar Kilometer in Graz. Der Anlass für diese Weitwanderung war eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung: Meine Schwester Zaussen war an Brustkrebs erkrankt und ich war auf der Suche nach einem Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit – ihrer und meiner. Aber was konnte ich tun? Ich bemerkte, dass Zaussen immer eingeengter wurde in ihren Gedanken, immer resignierter und nichts sie daraus befreien konnte. Ich dachte, ich müsse etwas ganz Krasses machen, was sie aus dieser Lethargie befreit. Gleichzeitig war es mir unmöglich, bewegungslos zuzuschauen, wie sie litt. Also packte ich meinen Rucksack und lief los. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit auf meinen Weg, erzählte ihr jeden Abend, was ich erlebt hatte und Zaussen verfolgte jeden meiner Schritte und gewann neuen Lebensmut. Auch dadurch, dass sie sah, welchen Strapazen ich mich aussetzte, um ihr zu helfen – das hat sie sehr berührt. Ich hatte am Beginn des Weges eigentlich nur den Wunsch stehenzubleiben oder gleich wieder nach Hause zu fahren, solche Muskelschmerzen hatte ich, so ungewohnt war das alles für mich, aber ich zwang mich, weiterzugehen, denn ich sagte mir, dass auch meine Schwester keine Wahl hat. Ich kämpfte mich durch.

Nicht mit 10 Kilometern am Tag, sondern die harte Tour – durchschnittlich 33 Kilometer am Tag. An einem anstrengenden, regenverhangenen Tag, der mich an die Grenze meiner körperlichen Kräfte brachte, gab ich ein Versprechen: Wenn meine Schwester den Krebs besiegt und ich einigermaßen heil in Santiago ankomme, dann gehe ich nach Mekka. Ich glaube, mir fiel damals einfach kein anderes Ziel ein, denn ich kannte mich in der Wanderszene noch nicht so gut aus, aber die großen Pilgerziele waren auch mir ein Begriff. Und so kam es dann auch. 2014 war meine Schwester geheilt und ich machte mich auf und ging zu Fuß von Graz nach Mekka. Das war eine Reise von zehn Monaten, 13 Ländern und 8.670 Kilometern. Und auf dieser Reise begann ich das Gehen zu lieben. All diese Länder durch die ich kam, diese vielen unterschiedlichen Menschen, die ich traf, diese Hilfsbereitschaft, die ich erlebte – es war einfach unglaublich. Alle meine Vorurteile lösten sich auf, wurden abgelöst von der grundlegenden Erkenntnis der Güte der Menschen – egal, ob hier in Europa oder in der Türkei, im Iran oder im Oman – überall erlebte ich Menschlichkeit. Als ich Mekka erreichte, war ich ein anderer. Und als ich im Mai 2015 zurück in Österreich war, fand ich mich nicht mehr in mein Leben hinein – ich wurde unglücklich und unzufrieden.

Auf Reisen begann ich das Gehen lieben zu lernen.

Weshalb warst du unzufrieden?

Thair: Der Alltag zuhause gab mir das Gefühl, mich permanent im Kreis zu bewegen. Täglich gab es den gleichen Rhythmus – das Bett, in dem ich morgens aufwachte, war jenes Bett, in das ich mich am Abend schlafen legte. Ich meine, ich hatte kein schlechtes Leben: Ich bin ausgebildeter Bauingenieur, hatte einen guten Job als General Manager Middle East in einem erfolgreichen österreichischen Unternehmen – ich war erfolgreich. Nach meiner Rückkehr passte das alles aber nicht mehr und ich suchte nach den Gründen dafür. Ich dachte, wenn ich den Job wechsle, etwas „menschlicheres“ mache, dann finde ich vielleicht den Sinn wieder. Also studierte ich erneut, gründete ein Übersetzungsbüro, arbeitete mit traumatisierten Flüchtlingen – und war dennoch unglücklich, unfrei. Es war Ende 2017 und ich war unzufrieden mit diesem Alltagsrhythmus und unglücklich wie das Leben gefühlt an mir vorbeizog. Ich wollte freier in meinen Entscheidungen sein. Freier im Sein. Mich im Leben geradlinig nach vorne und nicht stets im Kreis bewegen. Ungebunden sein. Mich auf den Moment einlassen und diesen bewusst erleben. All das hatte ich auf meiner Mekka-Wanderung erfahren und ich hatte so eine Sehnsucht danach, wieder zu gehen und wieder am Leben teilzunehmen.

Drei Monate später warst du am Nordkap. Ziel: Kapstadt. Wie hast du dich darauf vorbereitet?

Thair: Etwas anders als bei den vorherigen Wanderungen, denn diesmal war schon am Beginn klar, dass ich in mein altes Leben nicht zurückkehren werde. Ich hatte also einige organisatorische Dinge zu erledigen, habe meine Wohnung aufgegeben, meinen Besitz verkauft, manches verschenkt und ein paar persönliche Dinge zur Aufbewahrung gegeben. Ich habe mir eine sehr gute Ausrüstung zugelegt und dann ging´s los. Mehr Vorbereitung brauchte ich nicht, als der Entschluss gefasst war.

Planen kann man eine Reise, die eine Strecke von circa 30.000 Kilometer zu Fuß beträgt, ja sowieso nicht. Jede Idee einer Planung muss schon scheitern und das ist auch gut so, denn man würde sich in unendlichen Vorstellungen verlieren, die dann sowieso nicht eintreffen, da der Weg sich selbst schreibt. Ich habe mir also einen ganz groben Plan gemacht, wo ich lang gehen will, einige prominente Markierungen gesetzt. Dann habe ich mir die Karte von Norwegen ein wenig genauer angesehen. Und dann habe ich mich damit beschäftigt, was mich in den ersten Tagen erwarten wird, wie das Wetter ungefähr sein wird und was die ersten Tagesziele sein werden. Und ich dachte, ich werde dann einfach vor Ort fragen, was man sich ansehen sollte – denn die Locals kennen sich da am besten aus. Und so mache ich es heute noch: Ich plane grob das Ziel der nächsten Tage und der genaue Weg ergibt sich aus Gesprächen mit Einheimischen und Empfehlungen. Das große Ziel, Kapstadt zu erreichen, ist natürlich da und motiviert. Jedoch nehme ich mir bewusst mehr Zeit für alles und lasse mich vom Weg selbst leiten, statt die kürzesten Strecken von einem zum anderen Punkt zu suchen. Das ist ein Unterschied zu meinen vorherigen Reisen und hat sich im Laufe dieser Reise auch noch verstärkt. Ich habe ein Ziel, aber ich habe es nicht eilig. Und je länger ich unterwegs bin, um so länger kann ich Spenden sammeln für „mein“ Projekt für krebskranke Kinder in Tansania, das ich durch das Gehen unterstütze.

Die Vorstellung, sich vom Weg leiten zu lassen, klingt fantastisch. Auf das Projekt aus Tansania, das du dabei unterstützt, gehen wir später nochmal genauer ein. Wie waren deine ersten Reisemonate, wohin hat dich dein Weg geführt?

Thair: Bei minus drei Grad bin ich am Nordkap gestartet und war gut viereinhalb Monate in diesem wunderschönen Land namens Norwegen unterwegs. Ich hatte vorher nie bei solchen Temperaturen gezeltet und ich muss sagen: Herausfordernd und nicht ganz ungefährlich. Schon oben am Nordkap bin ich durch den bisher längsten Tunnel meiner Reise gegangen. Dieser führt acht Kilometer und 316 Meter unterhalb des Meeresspiegels durch einen Fjord. Das war aufregend. Ich brauchte zwei Stunden für die Strecke und musste immer wieder denken: „Was ist, wenn jetzt alles kollabiert? Fließt dann Wasser in den Tunnel? Bei Gefahr werden die Tunneleingänge zugesperrt.“ Das war krass und die zwei Stunden waren lang. In Norwegen hat es damals lediglich an fünf Tagen nicht geregnet. Es war sehr windig. Statt den bekannten Wanderweg E1 zu nehmen, bin ich die Fjorde von oben bis unten hin durchgewandert und die Küsten entlang gegangen. Wunderschön. Am südlichsten Punkt Norwegens in Lindesnes, gibt es ein Buch in einem Leuchtturm. Ein Buch für Personen, die vom Nordkap bis dorthin gelangt sind – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf Skiern. Dort habe ich mit verewigt.

Mit der Fähre, es war Herbst, bin ich nach Dänemark gefahren. Von dort aus bin ich nach Deutschland gegangen. Deutschland war sehr von Herzensangelegenheiten geprägt. Ich hatte einen längeren Aufenthalt in Berlin und habe dort von einem Teil meiner Familie erfahren, von dem ich bis dato nichts wusste. Als ich diese mir bis zu diesem Zeitpunkt „fremden“ Menschen in Thüringen besuchte, wurde ich herzlichst aufgenommen. Wir haben Geschichten voneinander erzählt und gemeinsam gekocht. Das war ein Erlebnis. Weihnachten habe ich dann in Hessen bei meiner Schwester verbracht und bei meiner Mutter eine Grippe auskuriert.

Anschließend bin ich über Orte wie Amsterdam, Rotterdam, Brüssel und Paris bis zum nördlichsten Punkt Spaniens gegangen. Dann ging ich den Jakobsweg bis Santiago de Compostella/ Finisterra. Bis hier war trotz einiger Routenabweichungen alles noch recht zielgerichtet, aber nach Lissabon habe ich dann schon nicht mehr die kürzesten Wegstrecken genommen sondern die schönsten. So ging ich dann allein in Andalusien 800 Kilometer – das hätte nicht sein müssen – ich wollte es aber und ließ mich immer mehr vom Weg selbst leiten. Europa verließ ich dann mit circa 10.800 Kilometern. Dann kam ich nach Marokko.

Es war bereits 2020 und allmählich machte sich weltweit die Corona-Pandemie bemerkbar. Mitte März kam dann der Lockdown und Marokko schloss für einige Monate seine Grenzen. Das machte meine Pläne erstmal zunichte, da ich im August 2020 lediglich in mein Heimatland Österreich zurückfliegen durfte statt weiterzugehen. Ich nahm den Weg in Wien wieder auf und ging durch Österreich und Slowenien, um noch vor dem nächsten Lockdown in Italien zu sein, wo ich nun bin. Von Wien in die Toskana sind es ungefähr 1.000 Kilometer Luftlinie – gegangen bin ich aber rund 3.600 Kilometer.

Überall auf der Welt, wo ich auch war, wurde mir nie Hilfe verwehrt, wenn diese nötig war.

Dein eigentlicher Plan war es, von Marokko aus weiterzugehen, richtig?

Thair: Ja, eigentlich wollte ich von Marokko aus nach Algerien gehen. Ich hatte für Marokko eine Route von circa 1.500 Kilometern geplant und dachte, vielleicht drei, vier Monate dort zu sein. Tatsächlich bin ich Marokko über 4.000 Kilometer gegangen. Das hatte einerseits mit der Pandemie zu tun und meinem verlängerten Aufenthalt durch die Grenzschließung, andererseits damit, dass ich beim Gehen von immer neuen schönen Orten erfuhr, die ich mir anschauen wollte. Ich bin der Küste Marokkos nach Süden bis nach Essaouira (übrigens ein Drehort von Game of Thrones) gefolgt, bin dann ins Landesinnere abgebogen, war in Marrakesch und habe den höchsten Berg Nordafrikas, den Toubkal mit 4.167 Metern am Hohen Atlas bestiegen.

Als dann der Lockdown kam, war ich gerade im Ait Bouguemez, dem Tal der Glücklichen, und musste mich erstmal erkundigen, ob ich überhaupt weitergehen darf. An sich stellte das kein Problem dar, weil ich zu Fuß unterwegs war. Doch die Grenze ins nächste Land durfte ich wegen der Pandemie nicht passieren. Zudem wurde ich von da an häufiger gestoppt, kontrolliert und musste immer erzählen, wer ich bin und was ich mache. Das liegt daran, dass in Marokko die jeweiligen Verantwortlichen eines Gebietes die Verantwortung für Touristen und Reisende übernehmen und deren Sicherheit gewährleisten müssen, wenn sich diese in ihrer Region befinden.

Zugleich wurde ich aber auch immer gastfreundlich behandelt. Für mich wurde gesorgt und ich fühlte mich sicher. Doch hin und wieder musste ich auch hartnäckig bleiben und streiten, damit ich ein Gebiet überhaupt erst betreten durfte. Auch wenn ich strenge Vorgaben erhielt, welchen Weg ich nehmen durfte, blieb ich oft stur und setzte mich auch immer durch, denn ich wollte nicht still stehen und länger an einem Ort bleiben, sondern weitergehen. Man kann das Ganze von zwei Seiten aus betrachten: Einerseits gab es diese Strenge, andererseits war das für meine Sicherheit – und dafür bin ich schon dankbar. Denn nie wurde mir etwas gestohlen. Selbst als ich mal einen ganzen Tag abwesend von meinem Zelt war, in dem all meine Wertsachen lagen. Stattdessen bekam ich am Abend Tee und etwas zu essen von den Locals. So habe ich Marokko erlebt. Marokko ist großartig und wunderbar. Generell, überall auf der Welt, wo ich war, wurde mir nie Hilfe verwehrt, wenn diese nötig war. Durch diesen Aufenthalt von acht Monaten in Marokko habe ich Orte besucht, die ich sonst nie gesehen hätte. Ich habe alle Königsstädte gesehen, war im Hohen und Mittleren Atlas und im Rif-Gebirge, ich war in der menschenleeren Sahara und hatte die unglaublich schönsten Begegnungen mit den Amazigh und bin auch noch auf den zweithöchsten Berg, den Jbel M´Goun gestiegen.

Im August 2020 wurden alle noch im Land verbliebenen Ausländer in ihre Heimatländer ausgeflogen und so fand ich mich plötzlich in Österreich wieder, einem Land, das niemals auf meiner Reiseroute fromkapptocape stand. Ich finde das wunderbar. Kapstadt ist das Ziel, aber der Weg schreibt sich selbst. Schade, dass ich Algerien nicht durchquert habe, dafür habe ich Österreich und Slowenien entdeckt und jetzt Norditalien. 

Je mehr ich mich dem Weg selbst öffne und je weniger zielfixiert ich gehe, umso freier fühle ich mich.

Du beschreibst, dass du 2018 losgegangen bist, weil dich das Gehen glücklich macht. Kannst du erklären, was es ist, das dich täglich motiviert?

Thair: Es ist die Freiheit, das Erleben, die Begegnungen und dieses täglich Neue. Ich darf entscheiden, wohin ich gehe und wie schnell, wie lange ich wo verweile, mit wem ich spreche und was ich mir ansehe. Ich suche mir den Weg aus und das Ziel. Das ist reizvoll, das macht süchtig und glücklich. Das ist genau das, warum ich losgelaufen bin: Auszubrechen aus täglichen Routinen und Plänen. Ich werde nicht dadurch motiviert, viel Strecke von A nach B geschafft zu haben. Das gibt es ja auch, dass man motiviert wird, eine Strecke in möglichst kurzer Zeit zu schaffen und vielleicht gut im Zeitplan zu sein – das ist bei mir überhaupt nicht so. Dieses Leistungsmotiv habe ich in meinem früherem Leben zurück gelassen. 

Je mehr ich mich dem Weg selbst öffne und je weniger zielfixiert ich gehe, umso freier fühle ich mich und umso mehr offenbart sich mir die Reise und dieses tägliche Erleben der Freiheit – das ist mein Antrieb und Glücksmoment. Das Unterwegssein selbst ist mein Antrieb und mein Lebensinhalt geworden. 

Aber, es ist auch wichtig, dass es das Ziel Kapstadt gibt, denn das ist ein Fixpunkt, der die Richtung vorgibt, um nicht verloren zu gehen. Mittlerweile ist das Gehen auch nicht mehr anstrengend für mich. Einen Muskelkater kenne ich gar nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Gehe ich täglich um die 30 Kilometer, fühlt sich mein Körper sehr wohl.

Wie hat sich deine Wahrnehmung durch das Gehen verändert?

Thair: Die Wahrnehmung zu Fuß ist eine andere, als wenn man mit dem Auto oder mit dem Fahrrad reist. Eben weil man so langsam unterwegs ist. Man hat die Zeit, sich umzudrehen, ein Bild länger zu verarbeiten. Meine Konzentration schärft sich, ich nehme vieles viel intensiver wahr. Wenn am Horizont eine Ortschaft erscheint, habe ich lange Zeit, mich darauf einzustellen, kann diese auf mich wirken lassen, Einzelheiten erkennen, bevor ich da bin. Die Ansicht ändert sich lange nicht, vielleicht alle fünf Minuten mal – das sind, je nachdem, wie schnell ich gerade gehe, circa 400 Meter. Mit dem Auto hingegen sind fünf Minuten viele zurückgelegte Kilometer, man muss viel mehr und viel schneller verarbeiten. Deswegen wird mir mittlerweile auch sehr schnell schwindlig, wenn ich in einem Auto mitfahre. Dann werde ich müde und schlafe nach maximal 25 Minuten ein, weil alles viel zu schnell geht. 

Kennst du das Sprichwort „ich war so schnell hier, meine Seele ist nicht nachgekommen“? Das sagt man, wenn man sich noch nicht angekommen fühlt, weil man zu schnell reist, zum Beispiel mit dem Flugzeug. Dann ist der Körper schon im Urlaubsland und die Seele noch beim Bäcker in Graz. Durch das Gehen bewege ich mich jedoch „so schnell wie meine Seele gehen kann“ und bin bewusst im Moment. Ich springe nicht von einem zum anderen Punkt, sondern erlebe den ganzen Weg dazwischen. Es fühlt sich für mich so an, als wäre ich durch mein bisheriges Leben mit einer Rakete von Ziel zu Ziel gerast und hätte nur einen Bruchteil davon wirklich erlebt. Nun gehe ich die ganze Strecke selbst zu Fuß und nehme jeden einzelnen Abschnitt davon bewusst wahr. 

Welche Herausforderungen ergeben sich durch deine Art zu reisen?

Thair: Die größten Herausforderungen als Spaziergänger bestehen darin, dass mein Radius auf 30-35 Kilometer am Tag begrenzt ist und dass ich nicht unendlich viel mitnehmen kann, da ich alles auf dem Rücken trage, Die Fragen sind meistens: Wie wird das Wetter? Wo esse ich? Wo bekomme ich Wasser? Wo werde ich schlafen? Ich muss mich rechtzeitig informieren, wo sich Einkaufsmöglichkeiten befinden oder, wenn es keine gibt, mich darauf einstellen, ausreichend Wasser mitzuführen. Sollte das Wetter eine Zeltübernachtung nicht zulassen, benötige ich auch eine Übernachtungsmöglichkeit am Tagesziel. Andere Herausforderungen sind gesperrte Wege, unüberwindliche Zäune, unerwartet lange Umwege, herausfordernde Wetterbedingungen, freilaufende Hunde…

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehe ich allein. Was jedoch nicht bedeutet, dass ich allein bin. Es gibt immer irgendwie Menschen um mich herum, die an der Strecke wohnen, arbeiten oder vorbeifahren. Und auf deren Hilfsbereitschaft kann man immer zählen. Immer und überall. In warmen Ländern, in der Wüste, da musste ich die Menschen nicht nach Wasser fragen, sondern sie kamen auf mich zu und boten mir etwas an. Das Erleben dieser Hilfsbereitschaft, der Herzlichkeit, das Vertrauen in die Güte der Menschen ist die schönste Erfahrung auf dieser Reise.

Gab es trotz der Menschlichkeit und Güte, die du tagtäglich erlebst, auch gefährliche zwischenmenschliche Situationen auf deiner aktuellen Reise?

Thair: Ich bin glücklicherweise bisher nur ein einziges Mal unterwegs angegriffen worden. Das war in Berlin, als ich mich neben dem Berliner Ortsschild fotografierte und eine Person in Springerstiefeln und Camouflage-Kappe mit den Worten „Na, haste Berlin erobert?“ in bedrohlicher Manier bis auf Nasenlänge an mich heran kam. Da hatte ich Angst, aber glücklicherweise blieb es dabei und die Situation konnte entschärft werden.  

Ich bin davon überzeugt, dass in allen von uns Liebe steckt und wir Menschen grundsätzlich friedlicher Natur und im Kern gut sind. Erweise ich Respekt und bin ich höflich, dann bekomme ich das gleiche zurück.

Diese Vorstellung, dass wir von Grund auf alle eigentlich friedlicher Natur sind, ist sehr wohltuend. Erzähle uns doch gerne mehr über das Projekt für krebskranke Kinder in Tansania, das du unterstützt.

Thair: Die Idee war: Wie kann ich helfen mit dem was ich tue? Seit der Erkrankung meiner Schwester war Krebs ein großes Thema für mich. Insbesondere der Einfluss des mentalen Zustandes und des Lebenswillens auf die Bewältigung einer schweren Erkrankung. Die weltweite Bewegung der Roten Nasen verfolgt einen solchen Ansatz, mit Ablenkung, Humor und Lachen einen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen, vor allem bei Kindern. Genau so etwas hatte ich mit meiner Schwester gemacht und das wollte ich gern unterstützen. Mich schreckte es jedoch ab, für eine große Organisation Geld zu sammeln. Gemeinsam mit Freunden kamen wir auf ein Projekt, dass ich nun durch das Gehen direkt unterstütze, komplett ohne bürokratische Umwege. Es ist das Projekt „Doctor Clown Tanzania“, wo die von mir gesammelten Spendengelder direkt dafür verwendet werden, Clowns zu finanzieren, die krebskranke Kinder in Krankenhäusern in Daressalam, Tansania besuchen. Zu den international bekannten „Roten Nasen“ gehören sie nicht, es ist ein vollkommen unabhängiges Projekt und die Spendengelder kommen direkt an. Seitdem ich das Projekt unterstütze, besuchen die Clowns die Kinder bereits drei bis viermal pro Woche – davor war es nur einmal. Während der Coronakrise wurden durch die Spendengelder auch Masken für die Kinder und ihre Familien finanziert und kleine Aufmerksamkeiten, die die Kinder in den coronabedingt abgeschotteten Kliniken gefallen könnten und dafür sorgen, ihnen ein paar schöne Stunden zu geben. Die Überlebensrate für diese Kinder in Tansania ist gering, die Behandlung teuer und auch während der Coronapandemie macht der Krebs keine Pause. Mir ist so bewusst, welches Glück ich habe, dass ich gesund bin und mein Leben so gestalten kann, wie ich es möchte, dass ich die Schönheit dieser Welt erleben kann und davon möchte ich gern etwas zurückgeben. Das soll nicht so selbstverständlich sein. Ich bekomme so viel Hilfe, erlebe so viel Menschlichkeit auf meinem Weg und es ist mir ein dringendes Bedürfnis, von dem, was ich bekomme, etwas weiterzugeben. Ich glaube das sollten wir alle tun – alle Menschen sollten geben und nehmen. Nehmen ist nur schön, wenn man auch gibt.

Wie kann man dich und das Projekt für die krebskranken Kinder in Tansania unterstützen? 

Thair: Das kann man auf sehr vielfältige Weise tun, je nachdem, wie es gefällt. Jede Unterstützung, egal wie klein oder groß, ist willkommen und lässt mich meine Reise fortsetzen und die Clowns unterstützen. 

So kann man mir einfach per Paypal einen Kaffee spendieren oder man kauft über Facebook eine Postkarte von mir oder am Jahresende einen Kalender mit den schönsten Reisefotos. Oder man unterstützt mich regelmäßig über Patreon und bekommt dafür schöne Postkarten aus aller Welt, Fotoposter und Ausrüstungshinweise. 20% aller Einnahmen gebe ich direkt weiter an „Doctor Clown Tanzania“, sodass man mit einer Spende gleichzeitig meinen Weg als auch die Clowns unterstützt.

Ich bin erreichbar über patreon.com/thairabud, über die Website: fromkapptocape.com, über Facebook und Instagram. Ich freue mich über jeden Follower und jede Unterstützung sehr.

Epilog & Infos

Im Interview lauschten wir gebannt Thairs Worten. Wir sind beeindruckt, inspiriert und gerührt von seiner Geschichte und seinem Vorhaben. Schaut euch doch mal Thairs Instagram-Profil an, besucht seine Patreon-Seite und tut etwas Gutes. Helft Thair, diese Reise weitergehen zu können, das Projekt in Tansania zu unterstützen und mit uns allen weitere Eindrücke seiner fantastischen Erlebnisse vom Nordkap nach Kapstadt teilen zu können. Wie Thair sagt: Nehmen ist nur schön, wenn man auch gibt.

Links:

Instagram: @thairabud

fromkapptocape.com

patreon.com/thairabud

Interview: 2021, Thair Abud mit Roadtrip Stories
(Titelbild: © Thair Abud)

Roadtrip Stories ist dein Onlinemagazin für Mindful & Slow Travel. Und wir lieben Roadtrips, denn diese eignen sich ideal, um erste erste Erfahrungen mit dem bewussten und entschleunigenden Reisen zu machen. Nach den Geschichten, die während einer solchen Reise entstehen, haben wir uns benannt.