Reisefotografin Carmen Huter über das Reisen, Mindfulness und Fotografie.

Carmen Huter ist eine mehrfach ausgezeichnete Reisefotografin aus Tirol. Durch ihre Tätigkeit bereiste sie bereits über 100 Länder dieser wunderschönen Welt. Das Reisen half ihr dabei, das Bewusstsein für die eigene Person und die Umwelt geschärft – ihre persönliche Mission »create more than you consume« ist ein Zeugnis dessen. Wir haben uns mit Carmen unterhalten, über ihr Mindset, Mindfulness, ihre Ansichten zum bewussten Reisen und der Frage, was es mit einem macht, beruflich ständig auf Reisen zu sein. Im Interview erzählt sie uns unter anderem davon, inwiefern sie das Reisen dabei gestärkt hat, stärker auf ihre innere Stimme zu hören und zu erkennen, wie sie ihr Leben sowie ihren Alltag gestalten möchte.

Beginn des Interviews

Liebe Carmen, was bedeutet Mindfulness (Achtsamkeit) für dich? 

Carmen: Mindfulness bezieht sich für mich persönlich eher weniger darauf, ob ich jetzt täglich meditiere, Yoga mache oder viel Wasser trinke, sondern mehr auf mein inneres Gefühl, Wohlbefinden und auf Selbstliebe. Auf den inneren Frieden, den man mit sich herumträgt, der einen wappnet und schützt vor dem Chaos, dass das Leben einfach mal so mit sich bringt. Für mich ist es diese stetige innere Ruhe und Kraft, von der man schöpfen kann und auch weiß, dass sie irgendwie endlos ist, da man sie ständig wieder auffüllt. Ein Gefühl der inneren Stärke, bei der ich weiß, dass sie da ist, komme was wolle.

Beinhaltet das auch eine gewisse Zufriedenheit und Entspannung? 

Carmen: Ja, das beinhaltet auf jeden Fall ein zufrieden sein. Beziehungsweise berufe ich mich dabei eher auf das glücklich sein. Da stellt sich dann natürlich immer die Frage, was bedeutet denn glücklich sein? Ich beziehe das immer darauf, dass ich zufrieden mit dem bin, was ich habe, was ich tue und wie etwas ist. Natürlich bietet das Raum für Fehlinterpretationen, so dass dann zum Beispiel fehlende Zielstrebigkeit nachgesagt werden kann. Jedoch hat das Zufriedensein in dem Sinne für mich eher damit zu tun, am Ende des Tages dann ruhig im Bett zu liegen und einschlafen zu können, ohne den Kopf in unnötigen Gedanken zu verlieren. Unnötige Gedanken im Sinne von „morgen muss ich das oder das noch besser machen“ – ich glaube, eben dieser Druck vom „immer besser machen, immer besser sein“ lässt sich nicht wirklich mit Mindfulness vereinbaren. Das bedeutet aber keineswegs, dass man dann nicht zielstrebig ist. Gerne laufe ich mal einen Berg hoch, dafür braucht es den Willen, den Gipfel, also das Ziel, zu erreichen. Das hat mit Demut zu tun und nicht mit fehlender Zielstrebigkeit – so dass man das Leben dankbar annimmt, so wie es ist.

In unserer westlichen Kultur lernt man sehr schnell, sich in gewisse Schubladen zu packen. Man wird gelabelt und labelt sich auch selbst damit, wie der eigene Charakter oder Lebensstil wahrgenommen werden könnte und nimmt an, dass es dann auch so sein muss. Wir betrachten, wie uns andere Leute sehen; Lehrer, Eltern, Freunde, und nehmen dass dann als Label für unsere Persönlichkeit an. Macht das glücklich? Ich persönlich bin zufrieden, wenn ich mir bewusst keine Grenzen setze, sondern selbst schaffen kann, wer ich sein möchte – und dafür trage ich auch selbst die Verantwortung. Und dieses Bewusstsein, zu sehen, wie ich denn aktuell ticke, wirkt sich bei mir meistens so aus, dass ich aktiv wahrnehme, wie ich auf unterschiedliche Sachen reagiere. Das hilft mir dabei, auf negative Sachen nicht so stark reagieren zu müssen und zu lernen, gewisse Dinge abzuwägen, zu sagen „es ist okay“ und mich dann so davon nicht aus der Bahn bringen zu lassen.

In unserer westlichen Kultur lernt man sehr schnell, sich selbst in gewisse Schubladen zu packen.

Carmen Huter

Ist das etwas, womit du zum aktuellen Zeitpunkt gut klar kommst?

Carmen: Zum aktuellen Zeitpunkt ist mein Lebensstil viel langsamer als noch in den letzten Jahren. Ich habe wirklich viel Zeit damit verbracht, von einem ins andere Land zu reisen. Meist aus beruflichen Gründen. Durch die Corona-Pandemie geht das nun in eine andere Richtung. Durch diesen langsameren Lebensstil habe ich viel mehr Zeit für mich selbst. Mehr Schlaf, mehr Zeit zur Reflexion, mehr Zeit zum Leben. Meinen Gedanken kann ich mehr Raum geben und mich damit auseinandersetzen, wer ich eigentlich bin, was ich tun möchte und wie ich innerhalb unserer Welt agieren will. Dieses Langsame bringt für mich einen großen Faktor der Achtsamkeit in mein Leben. Es ist gut zurzeit. Natürlich ist das ein konstanter Flow mit Up and Downs. Ich habe mir aber nie die Erwartung gesetzt, jetzt besonders ruhig oder besonnen durchs leben gehen zu müssen. Von Natur aus bin ich auch ein sehr emotionaler und temperamentvoller Mensch. Ich habe italienische Wurzeln, das spürt man (lacht). Dennoch ist da immer diese innere Kraft, aus der ich schöpfen kann.

Ist Achtsamkeit etwas, dass du aktiv und bewusst gestaltest oder ergibt sich der Lebensstil einfach aus deinem bisherigen Lebensweg und hat sich über die Jahre heraus so entwickelt?

Carmen: Beides. Ich glaube, es ist immer ein Grad zwischen dem, wie ich mein Leben tatsächlich lebe, wie ich meinen Lebensstil und mein bis jetzt Umfeld gestaltet habe und dem, dass es in einer gewissen Art und Weise schon ganz aktive und bewusste Arbeit ist. Ganz stark habe ich das über das letzte Jahr hinweg gespürt, als ich mich durch eine potenzielle gesundheitliche Diagnose total überwältigt fühlte. Fast ein Jahr musste ich darauf warten, bis diese Gesundheitsfrage geklärt war. Denn durch die aktuelle Pandemie gestaltet sich ein solcher Prozess als sehr langwierig. Erst im Januar 2021 kam dann das Ergebnis und ich konnte endlich aufatmen – im Endeffekt stellte sich heraus, dass ich kerngesund bin. Doch auf Grund meiner Sorgen diesbezüglich hatte ich das letzte Jahr wirklich sehr aktiv daran zu arbeiten, mir bewusst Zeit für mich selbst zu nehmen, so dass mich der ganze Prozess und all die negativen Gedanken nicht aus der Bahn werfen. Das Rausgehen in die Natur hat mir da sehr viel geholfen.

Wow, so etwas lähmt natürlich erstmal und das ist absolut nachvollziehbar. Wie gut schaffst es denn, trotz selbstständiger Tätigkeit dauerhaft entspannt und ausgeglichen zu sein?

Carmen: Mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich sehr zufrieden mit dem bin, was ich habe und wie es ist. Obwohl ich meinen Beruf mit ganzem Herzblut liebe und emotional ziemlich darin involviert bin, kann ich mich mental sehr gut von der Arbeit distanzieren. Konkret heißt das, dass wenn ich zum Beispiel am Wochenende bei Freunden oder meiner Familie bin, dann auch aktiv und bewusst dort bin, ohne an meinen Job zu denken. Da geht es dann nicht um meine berufliche Tätigkeit. Am Handy bin ich dann auch nicht erreichbar – egal, ob ich am Wochenende Anfragen bekomme, was schon oft passiert. Dieser Gedanke vom ständigen erreichbar und präsent sein müssen, den man als Selbstständiger oft hat, davon habe ich mich entfernt. Wie erwähnt liebe ich meinen Beruf und bin sehr stark damit verbunden. Das wichtigste ist aber für mich, dass ich gesund und zufrieden bin sowie ein liebevolles Umfeld habe. Darauf kommt es meiner Meinung nach an. 

Auch bei einer kurzfristigen Deadline lasse ich mich weniger schnell aus der Bahn werfen als früher noch. Als eigener Boss ist natürlich ständig etwas Druck da. Der ist einerseits auch notwendig, um überhaupt erfolgreich selbstständig sein zu können. Aber ich denke, ich habe da eine gute Balance gefunden, indem ich meine Frei- und Auszeit ernst nehme. Wenn der Beruf mit dem Reisen verbunden ist, ist das natürlich nicht immer ganz einfach. Aber ich versuche schon, bewusst auf mich zu achten, auf mich selbst zu hören und genügend Raum für den Ausgleich zur Arbeit zu schaffen.

Von dem Gedanken, ständig erreichbar sein zu müssen, habe ich mich entfernt.

Carmen Huter

Gab es dieses Bewusstsein, dass du aktiv und bewusst auf deine innere Stimme hörst, schon immer? 

Carmen: Diese innerliche Stimme, die mir sagt, dass ich vielleicht etwas anders machen sollte und irgendwie mein eigenes Ding durchziehen möchte, die gab es, denke ich, schon immer. Aber früher habe ich nie so wirklich auf sie gehört. Einfach, weil mir ein sehr strukturiertes Leben vorgelebt wurde. Ich denke, dadurch, dass ich zudem sehr früh aus meinem Elternhaus ausgezogen bin und dann selbst auf eigenen Füßen stehen musste, hatte ich auch nicht wirklich den Fokus oder gar die Chance, mich so sehr auf mich selbst konzentrieren zu können oder auf das, was ich eigentlich möchte. Da ging es viel mehr darum, irgendwie über die Runden zu kommen als dass ich mir darüber Gedanken machen hätte können, wie ich eigentlich leben möchte.

Als ich dann kurz nach meinem 18. Geburtstag die Gelegenheit hatte, nach Neuseeland zu reisen, wurde die innerliche Stimme lauter. Auch, weil sich dort die äußeren Umstände weniger laut angefühlt haben. Der Reiz, selbst etwas zu kreieren, der wurde dann immer größer. Aber auch der Mut, das durchzuziehen. Generell trug Mut sehr viel zu dieser Entwicklung bei. Schon mit 14 hatte ich das erste mal den Plan, nach Neuseeland zu fliegen. Damals hatte ich den Atlas aufgemacht und gesehen, dass es das am weitesten entfernte Land Österreichs ist. Für mich war das Reisen von Grund auf die Idee von Freiheit. Also wollte ich dahin, erstmal weg von allem. Zeit für mich haben. Egal was komme. So bin ich dann mit 18 nach Neuseeland. Nach drei Monaten musste ich plötzlich aus heiterem Himmel weinen. Da fiel mir auf: Der Grund dafür ist, dass ich einfach mal drei Monate lang nicht geweint habe. Das klingt nun super dramatisch. Aber irgendwie war es das auch, da sich mein Leben davor sehr dramatisch angefühlt hat. Ein Leben, dass ich nie unter Kontrolle haben konnte – und nun gab es da diese ersten drei Monate in Neuseeland, in denen ich plötzlich das Gefühl hatte, mein Leben selbst bestimmen zu können – mein Umfeld, meinen Tagesablauf, meine Zeit. Das war ein sehr intensiver Eye-Opening-Moment und ja, das Reisen ist ja auch immer eine Reise zu sich selbst. Das Weinen war bis zu diesem Zeitpunkt ein typischer Bestandteil meines Lebens und nun hatte ich es auf einmal bewusst wahrgenommen.

Ein Jahr später habe ich alles verkauft und bin direkt nach Neuseeland hingezogen. Ohne Job, ohne Stipendium, ohne Studienplatz. Nicht mal ein richtiges Visum hatte ich zu dem Zeitpunkt. Aber da kam diese innerliche Stimme, die mir sagte „das klappt schon alles“. Und dieses Vertrauen in mich selbst, ans Leben, aber auch diese Naivität und der Mut haben mich zu dieser Zeit immer durchgetragen. Im Endeffekt war ich dann für ganze achteinhalb Jahre in Neuseeland.

In Neuseeland habe ich dann so langsam angefangen, mich für neue Dinge im Leben zu interessieren, die mir nicht vorgelebt wurden. Insbesondere für das Reisen und für Fotografie. Der Mut und meine innere Stimme haben ein ganzes Stück dazu beigetragen, mich dahin zu führen, wie mein Leben heute ist. Da mischt sich vielleicht viel Naivität mit rein. Aber ich hatte während meines Weges immer das Gefühl, es probieren zu müssen und dass es klappt und richtig ist, was ich da tue.

Inwiefern hat das Reisen dein Bewusstsein für dich selbst geschärft? 

Carmen: Auf jeden Fall dahingehend, dass ich gelernt habe, mehr auf meine innere Stimme zu hören und das zu tun, was gut für mich, meine Zufriedenheit und mein Wohlbefinden ist – und das zu tun, was ich auch möchte.

Das war und ist natürlich noch immer ein Prozess. Mit dem Reisen habe ich circa drei bis vier Jahre vor meinem Einstieg in die Fashion-Fotografie begonnen. Das Reisen war also schon da, aber noch nicht der Mut, in die Reisefotografie zu gehen. Ich wurde damals noch von dem zurückgehalten, was ich bisher kannte, was mir vorgelebt wurde und was ich sah – eine Frau in der Reisefotografie, das gab es nur sehr selten. Ich wollte aber irgendetwas erschaffen und da ich Mode mochte und mir Instagram das Gefühl gab, Fashion-Blogging könnte etwas für mich sein, machte ich das dann zunächst auch. Sicherlich nicht meinae bewussteste Entscheidung. Bald erkannte ich dann, dass ich mich mit dem schnelllebigen und oberflächlichen Leben innerhalb der Fashion-Blase nicht identifizieren kann. Das Reisen aber war weiterhin meine große Leidenschaft – und der Prozess, der mir zu erkennen gab, dass ich selbstbestimmt entscheiden kann, nahm schrittweise konkretere Formen an und zeigte mir schließlich, was ich tun möchte.

Zudem habe ich schon bei meiner ersten Reise nach Neuseeland, beim zweitägigen Flug dorthin, realisiert: Wow, die Welt ist wirklich groß. Das klingt nun vielleicht naiv. Aber hier in Zentraleuropa, habe ich das Gefühl, wächst man in einer unglaublichen Blase auf, in der man gar nicht realisieren kann, wie groß und vielfältig unser Planet ist. Beim Reisen lernt man, sich für diese Welt zu öffnen, von ihr zu lernen, Vorurteile und Klischees fallen zu lassen und sich mit offenen Augen und offenem Herzen zu bewegen. Ich glaube hier, in unserer Kultur, haben wir dieses offene ziemlich verloren und sind dadurch oft sehr stark voreingenommen. All dieser Stolz, den wir oftmals in uns herumtragen, glaube ich, hilft nicht dabei, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Wahnsinn, was da ein Flug nach Neuseeland schon mit mir gemacht hat. Retroperspektiv war das wirklich wichtig für mich.

Durch das Reisen habe ich gelernt, besser und mehr auf meine innere Stimme zu hören.

Carmen Huter

Du hast dir eine persönliche Mission geschaffen: „Create more than you consume“ – erzähle uns doch gerne mehr darüber. 

Carmen: Angefangen hat das mit dem Ideal „weniger besitzen, mehr leben“.Klar, beim Reisen an sich braucht man eigentlich auch sehr wenig. Doch der Ursprung der Mission und das, wofür sie steht, ist nicht nur ein nachhaltiger und umweltbewusster Gedanke, sondern die Idee, das Leben aktiv in die eigenen Hände zu nehmen. „Create“ steht für das erschaffen des eigenen Weges und schließlich des eigenen Glücks. Mich persönlich hat das bisher immer zu richtigen Punkten meines Lebens geführt. Der weiterführende Satz „…more than you consume“ entstand daraus, dass wir heutzutage zum Beispiel in Social Media reihenweise konsumieren und vorgelebt bekommen, wie wir augenscheinlich leben sollen. Mit zigtausenden Role Models. Am besten sollten wir dabei auf jeden hören, dies essen, oder das anziehen oder so reisen. Irgendwann dachte ich mir: „Stopp! So funktioniert das Leben nicht und das ist nicht das, was mich glücklich macht.“  Denn eigentlich macht es mich doch am glücklichsten, wenn ich weiß, was für mich gut ist, nicht? Das muss aber noch lange nicht heißen, dass das dann auch für meinen Nachbarn oder meine beste Freundin gut ist. Da sind wir alle unterschiedlich.

Dieses Privileg, dann auch den eigenen Weg gehen und wählen zu können, das bedeutet für mich „create more than you consume“ – selbst bewusst zu entscheiden und dabei nicht irgendwelche vorgelebten Vorstellungen oder Produkte zu konsumieren, nur weil es vielleicht einfacher wäre oder einem in den Schoß gelegt wird.

Beim Betrachten deiner Bilder entstehen Emotionen, Geschichten im Kopf und das Gefühl, als könne man selbst in diese eintauchen und Teil davon sein. Inwiefern spielt das bewusste Erleben des Moments eine Rolle bei deiner kreativen Tätigkeit und beim Reisen?

Carmen: Der ausschlaggebende Punkt ist doch, dass Bilder und Kunst Emotionen auslösen sollen. Sowohl beim Betrachter, als auch auch immer beim Erschaffer. Denn wenn ein Bild in mir selbst nichts auslöst, geht die Übersetzung dessen verloren, was ich damit eigentlich sagen möchte. Also muss ich etwas fühlen, bevor ich ein Motiv abknipse und in die Welt entsende. Dafür sollte ich natürlich schon ein Bewusstsein für den Moment haben, das steht ganz klar im Vordergrund und trägt sehr viel zum Ausdruck eines Bildes bei. Viel hat natürlich auch mit der anschließenden Bildbearbeitung zu tun, oder mit dem Equipment, mit dem ein Foto geschossen wird. Doch die Basis eines guten Bildes entsteht durch die eigene Intention. Dass ich mich dabei selbst frage „was soll das Bild auslösen?“ oder „was soll meine Kunst oder eine Story bei Menschen auslösen?“, ist schon sehr wichtig. Mich damit zu befassen, was eine Szene, eine Umgebung oder ein Motiv mit mir selbst macht ist essenziell, um dies dann mit Hilfe der Fotografie wiedererzählen zu können. Das aktive und bewusste Erleben des Moments ist ganz entscheidend bei meinen Bildern.

Natürlich muss man erstmal an den Punkt kommen, etwas bewusst wahrzunehmen – und das ist ein sich stetig weiterentwickelnder Prozess. Was mir persönlich hilft ist, dass ich anfänglich nur gereist bin, um zu erleben – also ohne Kamera. Denn so konnte ich lernen, Orte aktiv wahrzunehmen, zu entdecken – und zwar ganz bewusst. Diese Erfahrung hilft mir, Motive irgendwie anders wahrzunehmen. Jungen Fotograf*innen, denke ich, fällt das sehr oft schwer. Gerade, wenn man aus dem Instagram-Zeitalter kommt und direkt etwas schaffen und festhalten möchte, die Erfahrung des eigentlichen Reisens ohne Kamera aber fehlt. Ich finde es wichtig, einen Ort zu erleben, zu beschreiben, wahrzunehmen, und die Kamera dabei erstmal außen vor zu lassen. So machen wir das beispielsweise in meinen Fotografie-Workshops.

Es ist wichtig, ein Bewusstsein für den Moment und den Ort zu haben, bevor ich ein Motiv abknipse.

Carmen Huter

Hast du Tipps, die dabei helfen, Reisemomente aktiv und bewusst wahrzunehmen? 

Carmen: Ich finde, man sollte nie mit der Intention reisen, irgendeinen Ort zu besuchen, nur um dort dann ein Bild zu schießen. Und falls das wirklich tun sollte, sollte man sich zumindest selbst fragen „Warum tue ich das?“ und „Was macht das Bild mit mir?“ – denn da sollte mehr sein als nur eine Fotografie, sondern eine echte Emotion. Diese Emotion kann erst entstehen, wenn ich einen Ort bewusst wahrnehme und ihn zu spüren beginne. Dabei hilft aus fotografischer Sicht zum Beispiel ein 360-Grad-Turn und das genaue Beobachten der Umgebung. Wie sieht das Gras aus? Von woher kommt das Licht? Wie fällt die Sonne? Wie kann ich eine Textur oder mehrere Ebenen im Bild festhalten? Das hilft dabei, die Kraft eines Ortes zu wahrzunehmen, anstatt emotionslos los zu knipsen.

Wie kann man sich eine Reise mit dir vorstellen? 

Carmen: Ich halte sehr viel Ausschau nach gutem regionalem Essen. Essen hat eine sehr große Priorität! (lacht) 

Also, man muss sich vorstellen, dass man mit mir schon sehr oft früh für Sonnenaufgänge aufstehen sollte. Nicht, um diese zu fotografieren, sondern einfach, weil das für mich einer der schönsten Momente des Tages ist. Grundsätzlich ist das mein Tipp, wenn man eine Landschaft oder ein Reiseziel gut kennenlernen will: Einfach mal früh aufstehen. Einerseits, weil das Licht morgens super schön ist, andererseits aber auch, weil es zu den frühen Tageszeiten generell stiller ist. Das hilft ein bisschen, die richtige Kultur eines Ortes kennenzulernen – insbesondere, wenn dieser stark touristisch ausgeprägt ist und von Reisebussen belagert wird. Fehlen diese Touristenscharen, nimmt man eine Umgebung bewusster wahr und fühlt sich weniger gestresst. Zum Essen und dem frühen Aufstehen gesellen sich bei einer Reise mit mir höchstwahrscheinlich etliche sportliche Aktivitäten wie Wanderungen hinzu. Ansonsten, würde ich sagen, ist eine gewisse Flexibilität wichtig. Ich plane nicht zu weit im Voraus und schaue eher auf das, was auf mich zukommt. Der Weg ist das Ziel. Ich will die Schönheit und Natürlichkeit dieser Welt und seiner Menschen erleben. Auch festhalten, aber in erstem Sinne erleben.

Planst du deine Trips vor Antritt detailliert oder lässt du eine Reise auf dich zukommen?

Carmen: Je nachdem, ob es eine private oder berufliche Reise ist, unterscheidet sich das natürlich etwas. Generell lasse ich mir aber immer etwas Raum für Eventualitäten – wie beispielsweise die Entwicklung des Wetters oder aber auch der Möglichkeit, dass es mir an einem Ort so gut gefällt, dass ich doch etwas länger bleiben möchte. Einen mit Google Maps erstellten groben Plan gibt es aber immer. Wichtig ist für mich, dass ich zwischen den Reisezielen nicht zu weit reisen muss, also beispielsweise nicht sieben Stunden am Stück im Auto bin. Da bin ich eher der Roadtrip-Typ. Ich mag Abwechslung. Selbst auf einer Insel würde ich unterschiedliche Spots und Aktivitäten suchen. Mit Tagen, an denen man mal aktiver ist – und Zeiten, in denen man einfach mal nichts tut.

Wie bist du bisher gereist und wie reist du jetzt?

Carmen: Berufsbedingt hatte ich bisher etliche Flugstunden, die nicht nur schädlich für meine Gesundheit waren, sondern natürlich auch für den Planeten. Hier mal ein Job in Italien, dort mal ein Auftrag aus Kalifornien, dann Tahiti, und so weiter. Da kann es schnell mal hektisch werden. Natürlich ist das mein Beruf. Doch mittlerweile sehne ich mich mehr danach, wieder so zu reisen, wie früher. Also langsamer. Um mehr Zeit zu haben. Mehr Zeit für die Wahrnehmung der Umgebung, mehr Zeit für das Kennenlernen von Kulturen, mehr Zeit für Begegnungen mit Menschen und mehr Zeit für mich. An sich habe ich immer versucht, bewusster und langsamer zu reisen. Für Außenstehende war das aber schwer erkennbar, da ich so rasch zwischen den Ländern gereist bin. Jetzt in Österreich, führe ich aber wieder mehr davon ein, wie ich früher gereist bin.

Ich will die Schönheit und Natürlichkeit dieser Welt und seiner Menschen erleben. Bei dem Privileg des Reisens ist es mir wichtig, dass besuchte Orte wertgeschätzt werden.

Carmen Huter

Bevorzugst du es dabei im Auto unterwegs zu sein und in gebuchten Unterkünften zu nächtigen oder ziehst du dem das Vanlife vor? 

Carmen: Zwar liebe ich das Leben im Van – ich finde aber, dass das Unterwegssein mit dem Auto und das Übernachten in originellen Airbnbs oder Bed&Breakfasts generell schon eine schöne Möglichkeit ist, einem Land auch etwas zurückgeben zu können. Für mich ist es wichtig, bei dem Privileg des Reisens, dass besuchte Orte auch wertgeschätzt werden. Das bedeutet mehr als einen Ort zu besuchen, nur um den nächsten Instagram-Post im Kasten zu haben. Wenn ich beispielsweise in einem kleinen italienischen Ort bin, in einer Unterkunft dort nächtige, dort esse und im lokalen Laden einkaufe, kann ich der regionalen Kultur ein kleines Stück zurückgeben. So kleine originelle Unterkünfte sind auch eine gute Möglichkeit, die ansässige Kultur an sich besser kennenzulernen sowie einen Ort intensiver zu erleben und Erfahrungen so zu sammeln, wie es sonst vielleicht nicht möglich wäre. Wenn es aber nur um das Reisen in der Natur geht, dann natürlich gerne auch im Van. Auch das Wandern ist eine schöne Möglichkeit. In Neuseeland bin ich beispielsweise immer wieder so fünf bis zehn Tage lange Touren gewandert.

Wie entspannst du während dem Reisen?

Carmen: Entspannung finde ich in einfachen Dingen. Ich gönne mir je nachdem immer ein paar Stunden oder mal einen Tag, einfach nur um zu lesen, nichts zu tun, Sport zu machen oder mit meinem Freundeskreis oder meiner Familie zu telefonieren. Aber auch langes Essen gehen entspannt mich, oder kochen. Einfach so verschiedene kleine Aktivitäten, die ich aber ohnehin auch zu Hause machen würde. Denn durch das langjährige Reisen habe ich begonnen, meinen Alltag auf Reisen ähnlich wie den zu Hause zu gestalten. Das heißt, ich lebe mein Leben nicht so anders, wenn ich auf Reisen bin. Über die Jahre hinweg habe ich gelernt, sowohl im Alltag zuhause als auch auf Reisen auf mich selbst zu hören und dann das umzusetzen, was und wie mir etwas gut tut.

Nun sind deine Reisen oft eng mit deinem Beruf verbunden – inwiefern hast du das Gefühl, dass das Arbeiten unterwegs dein Reisegefühl hemmt oder negativ beeinflusst?

Carmen: In dem Sinne, dass die Kombination aus Arbeit und Reisen natürlich oft sehr viel Stress und Druck mit sich bringt. Und man hat, wenn man als Reisefotografin tätig ist, in vielen Dingen einfach keine Kontrolle. Zum Beispiel kann man das Wetter nicht beeinflussen oder es können nicht planbare Gegebenheiten in der Natur auftauchen. So dass ich dementsprechend etwas nicht so festhalten kann, wie ich das eigentlich sollte. Das bringt sehr viel mehr Druck mit sich und macht das Reisen, wenn es aus beruflichen Gründen ist, definitiv ein wenig angespannter. Aber in einem guten Team kann das auch ganz gut ausbalanciert werden. Beispielsweise durch ein schönes gemeinsames Abendessen, durch ein paar Stunden nichts tun oder durch Sport. Mit der Zeit entwickelt man aber ein gewisses Every-Day-Life, also eine Routine, die auch dazu beiträgt, dass man bei beruflichen Reisen schon auch noch die Kultur, die Reiseerfahrung an sich und die lokale Natur genießen kann – für sich selbst und nicht nur für die Kamera.

Gab’s denn beim Reisen auch diesen Moment, in dem du dir gedacht hast „jetzt wird es zu viel, jetzt brauche ich mal einen Reisestopp“?

Carmen: Klar, den gab es oft, da mein Beruf bisher viel mit dem Reisen verknüpft war. Und die Kreativ-Industrie ist da sehr schnelllebig – es wird ständig erwartet, dass man jeden Tag, jede Minute „ready to go ist“. Als ich noch in Neuseeland war, kam eines Tages eine Anfrage rein, bei der ich in fünf Tagen in Italien hätte sein musste. Alleine der Flug nach Italien dauert von Neuseeland aus gut zwei bis drei Tage. Glücklicherweise ist das ein extremes Beispiel und nicht die Regel, aber die Erwartungshaltung von Kunden ist oft sehr faszinierend. Einer der Gründe, warum ich nun wieder nach Österreich gezogen bin, ist, dass ich hier nicht so viel und weniger oft zu Kunden reisen muss, wie das noch zu meiner Zeit in Neuseeland der Fall war. Hier kann ich mir ein regionaleres Klientel aufbauen, muss berufsbedingt weniger unterwegs sein und habe somit auch mehr Zeit für mich selbst. Das ist quasi die Idee von der Nachhaltigkeit für mich selbst.

Neben deiner Tätigkeit als Reisefotografin bist du sehr aktiv in den sozialen Medien. Als Selbstständige zudem sicherlich auch viel am Smartphone. Wie sehr beeinflusst das dein Wohlbefinden und wie gehst du damit um? 

Carmen: Das beeinflusst mich tatsächlich sehr. Daher ignoriere ich mein Smartphone ganz oft und versuche, aktiv auf mich selbst zu hören, wie generell im Leben. Meine innere Stimme sagt mir oft, was mir im Moment gut tut und was nicht. Mit Social Media ist es generell schwierig. Denn in den seltensten Fällen tut das gut. Bei mir ist es jetzt aber nicht so, als ob ich mich täglich durch Social Media geschädigt fühlen würde. Denn ich habe eine sehr loyale Community, mit der der Austausch anregend, interessant und positiv ist. Dafür bin ich dankbar und das kann ich auch genießen.

Dennoch ist zu viel Zeit am Smartphone und in sozialen Medien einfach nicht gut für die mentale Gesundheit, das wurde ja auch schon oft nachgewiesen. Aber ich mache mir da gar nicht so den Druck, ständig online oder jeden Tag posten zu müssen. Ich richte mein Leben nicht danach, denn das ist es mir persönlich nicht wert. Vielleicht war es das mal und natürlich hätte ich auch Möglichkeiten, meine Social-Media-Kanäle weiter wachsen zu lassen. Aber ich weiß, dass ich daraus nicht so eine Art von Zufriedenheit ziehen würde, wie ich es durch mein aktives Alltagsleben, das Reisen oder meinen Beruf tue. Mein Leben ist nicht abhängig von Social Media. Denn auch ohne würde ich weiterhin fotografieren, reisen und zudem einen noch entspannteren  Alltag führen. So lege ich Social Media einfach mal beiseite,  wenn ich das Gefühl habe, dass es mir zu viel wird.

Reist du lieber alleine oder in Begleitung?  

Carmen: Generell bin ich aber schon lieber mit Begleitung unterwegs. Denn ich finde, es fühlt sich schöner an, tolle Momente und Dinge zu teilen. Das gibt mir dann auch selbst mehr. So ist es auch beim Reisen. Allerdings brauche ich auch immer mal wieder Zeit für mich alleine.

Welche der bereisten Orte hatten bisher eine besonders starke Wirkung auf dich?

Carmen: Gerade die Länder und Orte, von denen man es nicht erwarten würde, haben mich besonders stark inspiriert und beeinflusst. Länder, die durch unsere westliche Weltanschauung bestimmte Klischees aufgedrückt bekommen und diese Vorurteile dann aber auf meinen Reisen im guten Sinne zerstört haben. Viele Länder des afrikanischen Kontinents wie Tansania, Namibia oder Uganda zum Beispiel. Oder auch China. Vor Ort bekommst du da viel mehr mit als durch die fernen westliche Brille. Vor allem bei China ist es so, dass jedes mal, wenn ich davon rede, die Frage bekomme, ob es dort nicht unglaublich laut, dreckig und schwierig zu leben sei – und auch den Gedanken, dass Menschen in China unfreundlich seien, tragen viele mit sich rum. Um ehrlich zu sein, war ich aber noch nie in einem Land voll unfreundlicher Menschen. Und in China wurde ich mit offenen Händen empfangen und herzlichst begrüßt. Auch und insbesondere an weniger besiedelten Plätzen, wo kaum jemand englisch spricht. Die Natur dort ist gewaltig und wunderschön – Berge unglaublich hoch und einfach nur atemberaubend. 

Hier im Westen denken wir da oft nur in Schwarz-Weiß. Daher sind meine liebsten Orte und Erinnerungen einfach immer die, die meinen Horizont so erweitert haben, dass Vorurteile gänzlich verschwunden sind. Zwar habe ich als Frau natürlich auch negative Erfahrungen gemacht. Sexuelle Belästigung ist eine davon – da hat man es als Mann vielleicht einfacher. Doch im Großen und Ganzen gibt es bisher kein einziges Land, dass die Reise nicht wert gewesen wäre.

Das Unterwegssein während der Corona-Pandemie gestaltet sich als gar nicht so einfach und oft stellt sich dabei auch die Frage, inwiefern das Reisen derzeit moralisch und ethisch vertretbar ist. Wie schaffst du es, jetzt während der Corona-Pandemie ausgeglichen zu sein? Plagt dich Fernweh?  

Carmen: Fernweh habe ich gerade schon, ja. Denn gerne würde ich meine Freunde in Neuseeland besuchen oder wieder mal ans Meer fahren. Doch unabhängig davon schaffe ich es durch meine alltäglichen Aktivitäten bewusst zu leben und ausgeglichen zu sein. Sei es durch guten Schlaf, gutes Essen oder gute Beziehungen zu meinem Umfeld, meiner Familie und mir selbst. Insbesondere Selbstliebe finde ich da sehr wichtig. Zudem gehe ich aktiv viel raus – so lange ich Zeit in der Natur verbringen kann, schaffe ich es auch immer, ausgeglichen zu sein. Ich würde sagen, es ist vor allem die Mischung aus Selbstliebe, Natur und Schlafqualität, die entscheidend für mich und mein Wohlbefinden ist. 

Möchtest du unseren Lesern noch etwas mitteilen?

Carmen: Ich würde es mir wünschen, dass sich noch mehr Menschen dem Gedanken von „create more than you consume“ bewusst öffnen und diesen so für ihre eigene Welt übersetzen, wie es sich individuell gut anfühlt. Egal, ob man jetzt weniger besitzen und mehr leben will oder bewusster konsumiert. Es geht darum zu versuchen, den persönlichen Lebensweg in die eigene Hand zu nehmen und sich so eine Welt zu schaffen, wie man sie sich selbst vorstellt. Gerade wir hier innerhalb der westlichen Welt leben so privilegiert und haben so viele Möglichkeiten, dass man oft einfach nur den Mut dazu finden muss, das Gute im Leben auch zu finden. Diesen Mut möchte ich weitergeben.


Mehr über Carmen und ihre Tätigkeit als Reisefotografin Fotografien findest du auf carmenhuter.com und auf ihrem Instagram-Kanal @carmenhuter

Interview: 2021, Carmen Huter mit Roadtrip Stories (Titelbild: © Carmen Huter)

Roadtrip Stories ist dein Onlinemagazin für Mindful & Slow Travel. Und wir lieben Roadtrips, denn diese eignen sich ideal, um erste erste Erfahrungen mit dem bewussten und entschleunigenden Reisen zu machen. Nach den Geschichten, die während einer solchen Reise entstehen, haben wir uns benannt.